24 Monate später der erste Reif

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Es ist der 10. November. Die Zeit ist nicht stehen geblieben und doch holt sie mich gerade jetzt wieder ein. Der erste Frost hat auf die Wiesen weiß funkelnden Reif gelegt und die Sonne scheint. Genauso, wie vor zwei Jahren. So fühlt es sich gerade an. Ich weiß noch genau, wie ich zu Mama gesagt habe, dass es gefroren hat. Es war kurz vor dem Martinstag. So wie jetzt. Am Martinsabend habe ich Mama noch einen Stuhl ans Fenster gestellt, damit sie die Kinder mit ihren Laternen sehen kann, wenn sie durchs Dorf ziehen. Und einen kleinen Weckmann habe ich ihr mitgebracht. Von dem konnte sie nur ein winziges Stückchen essen. Jetzt ist dieser Moment wieder da, ganz nah. Und ich spüre, wie ich traurig werde. In zwei Tagen soll der Martinszug durchs Dorf gehen und ich will wieder den bunten Papierstern ins Fenster hängen, der dort wie jedes Jahr auch bis nach Weihnachten leuchten soll. Als Mama bei mir war, leuchtete dieser Stern Tag und Nacht. Mama wollte es nie ganz dunkel im Zimmer haben. Vor einem Jahr fragte mich Sabine noch, ob es mir nichts ausmacht, diesen Stern aufzuhängen. „Nein“ hatte ich damals gesagt. Genauso wenig hatte es mir damals ausgemacht, mein Sofa wieder in die Ecke des Zimmers zu stellen, in dem bis zuletzt auch Mamas Bett gestanden hatte. Ich gebe zu, am Anfang hatte ich schon Sorge, ob ich mich wie vorher in diesem Raum wohlfühlen konnte. In der Ecke, in der Mama ihren letzten Atemzug getan hat. Es hat mir nichts ausgemacht, mein Wohnzimmer wieder dort einzuräumen und mir es genau dort wieder gemütlich zu machen. Die Sorge, der Tod könnte vielleicht noch mystisch irgendwo zwischen den vier Wänden gegenwärtig sein, war völlig grundlos. Ich gebe zu, es hat schon gedauert, bis der Geruch von Mamas Krankheit, gemischt von dem der Duftkerzen, diesen Raum wieder verlassen hat. Aber die Normalität hat mir gutgetan. Ich hatte wieder meine Wohnung zurück, die 41 Tage lang Krankenzimmer, Herberge, Abschiedsraum und Ort unendlicher Traurigkeit war. Ja, und ich hatte wieder meine Privatsphäre zurück, die ab dem 19. Oktober völlig verschwunden war. Ich konnte wieder langsam zu mir finden, wieder mein Leben weiterleben. Manchmal, an Tagen wie heute, da holen mich die Erlebnisse ein. Alles ist wieder da. Die Worte, das Schweigen, die Tränen, die Verzweiflung. Aber ich spüre auch die dankbare Erinnerung an das große Vertrauen, das Mama mir geschenkt hat, an jede liebevolle Unterstützung und die Gewissheit, dass mich meine Familie hält.