Jeden Tag geht es ein Stückchen mehr bergab mit Mama. Und auch meine Kräfte scheinen zu schwinden. Seit dem 19. Oktober habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen, Mama so schwach zu sehen, tut weh. Ich schleppe Pepsinwein an, eine Freundin von Mama empfiehlt eine Brühe aus Kalbsknochen und ich mache den Heringssalat, den sie immer so gern gegessen hat (Darauf kann ich mir echt etwas einbilden, denn Mamas Ideal einer perfekten Hausfrau und Köchin zu entsprechen, das ist gar nicht so leicht). Mit der Zeit schmeckt ihr der morgendliche Kaffee nicht mehr, ich koche Tee und tagsüber versuchen wir es mit Fruchtschorlen und Malzbier. Das Essen klappt einfach nicht mehr, meine Mutter will es nicht herunterbekommen. Als sie die Ärztin fragt, ob eine künstliche Ernährung sinnvoll sein könnte, muss sie erfahren, dass dies in ihrer Situation keine Option mehr ist. „Ihre Krankheit ist so weit fortgeschritten, ihr Körper könnte die Nahrung nicht mehr verwerten“, sagt die Ärztin. Die Gefahr, dass die Übelkeit zurückkommt und der schwache Körper zu sehr belastet wird, sei zu hoch. Und dann ist da ja noch der Tumor, dieser fiese Schmarotzer, der sämtliche Nährstoffe rauben und verwerten würde, um weiter zu wachsen.
Mama schaut mich an. „Jetzt weißt Du, wen du dir hierhin geholt hast“, sagt sie bitter. „Ich habe meine Mama zu mir geholt“, lautet meine Antwort. Das erste und einzige Mal in 41 Tagen liegen wir uns schluchzend und weinend in den Armen. „Kannst du das denn?“ fragt sie mich irgendwann. „Ja natürlich. Der Mensch kann so viel, wenn er will, Mama“, höre ich mich durch den Tränenschleier sagen. Das weiß sie selbst am besten. Schließlich hat sie vor vielen Jahren Papa gepflegt und ihren späteren Lebensgefährten, der auch schon lange tot ist, umsorgt. Letztendlich hat sie vier Kinder großgezogen. Mit allen Schwierigkeiten und natürlich auch den schönen Seiten. Nun muss und will ich für sie da sein.
Und ein Mensch kann noch mehr, wenn da zwei sind, die einem helfen. Als ich das Gefühl habe, dass ich alles nicht mehr allein schaffen kann, rufe ich meine Schwester an. „Kannst du heute Nacht bei uns schlafen?“ frage ich sie. Sabine kommt und wird für die nächste Zeit bei mir einziehen. Von nun an wachen wir gemeinsam und immer mal wieder abwechselnd an Mamas Bett. Wir passen auf, dass sie nicht allein aufsteht, reichen ihr das Dunkelbier und drücken den Knopf der Schmerzpumpe (die sie mittlerweile bekommen hat), wenn die Schmerzen stärker werden. Irgendwann steht meine Tochter Katja vor der Türe. „Ihr geht heute Nacht mal schlafen und ich passe auf“, sagt sie bestimmt. Von diesem Moment an ist sie mit im Team. Damit nicht eine allein sich diese unendlich langen Stunden in der Nacht um die Ohren schlagen muss, halten zwei von uns Wache, während die Dritte für ein paar Stunden schlafen kann. Die beiden, die am Esstisch am Durchgang zu Mamas Zimmer sitzen, halten sich mit dem Ausmalen von Mandalas, dem Puzzeln, Lesen oder Stricken wach. Und irgendwie scheint in der Nacht die Zeit viel langsamer vorüber zu gehen als tagsüber. Und wäre da nicht immer wieder dieser unbeschreibliche Abschiedsschmerz, die Trauer und die Hilflosigkeit. Einen Sterbenden hat noch niemand von uns begleitet. Jedenfalls nicht so. Nicht mit dieser Verantwortung.