30 Stufen zwischen Himmel und Erde

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Eigentlich hatte sich Mama gewünscht, in einer Urnenwand ihre letzte Ruhe zu finden. Sie wollte nicht unter die Erde. Warum, das weiß ich gar nicht. Nie haben wir beide darüber gesprochen. Meiner älteren Schwester hatte sie es irgendwann einmal gesagt. Doch diesen Wunsch werden wir ihr nicht erfüllen können, denn auf unserem Friedhof besteht diese Möglichkeit der Bestattung gar nicht. Und als uns der Bestatter erklärt, dass nach Ablauf der Ruhezeit auch die Urnen aus dem Kolumbarium in der Erde auf dem Friedhof für immer beigesetzt werden müssen, entscheiden wir uns für ein Urnengrab. Die Urnengräber befinden sich auf dem Sonnenhügel. Diese Bezeichnung gefällt uns gut und versöhnt uns mit der Tatsache, dass die Urnenwand nicht infrage kommt. Auf einen anderen Friedhof in einem weiter entfernten Ort möchten wir nicht ausweichen, Mamas letzte Ruhestätte wollen wir schließlich auf kurzem Wege erreichen. Es ist ein eisig kalter und sonniger Dezembernachmittag, als wir uns in der Friedhofshalle zusammenfinden. Der Blick auf die Urne, um die ein hübscher Blumenkranz gelegt ist, treibt mir die Tränen in die Augen. Und auch das Lied von Cliff Richard, „The Millennium Prayer“, das wir spielen lassen. Ob dies nicht am Ende zu temperamentvoll für eine Beerdigung ist, hatten wir noch ein paar Tage vorher den Bestatter gefragt. „Wenn dieses Lied Eure Mutter gerne gehört hat, ist es genau richtig, ganz egal, was vielleicht die anderen Leute denken“, lautete seine Antwort. Wie recht er hat. Ich bin übrigens froh, dass Mama sich für eine Einäscherung entschieden hat. Ich glaube, es wäre mir unendlich schwergefallen, zu sehen, wie sie in einem Sarg ins Grab hinuntergelassen würde. Die Urne ermöglicht mir etwas Abstand, wenn man in diesem emotionalen Moment überhaupt Abstand haben kann. Nach der Zeremonie gehen wir alle mit unserer kleinen Gesellschaft in die Gaststätte im Dorf, wo Kaffee, Kuchen und Schnittchen auf uns warten. Wie gut, dass wir uns dafür entschieden haben. Es tut gut, etwas zu essen, miteinander zu reden und nicht nach Hause zu müssen. Zuhause wartet ein leeres Krankenzimmer auf mich, erst nach und nach werden Pflegebett, Toilettenstuhl und Wannenlift bei mir abgeholt. Na ja, und wie könnte es anders sein, auch noch jede Menge Papierkram wartet auf mich, viele Dinge mit Krankenkasse und Versicherungen müssen erledigt werden.

Wie oft ich die 30 Stufen hinauf zum Sonnenhügel später noch gehen werde, ahne ich am Tag der Beerdigung noch nicht. Doch es tut mir gut, nach dem Grab zu sehen, mich später um das kleine Beet zu kümmern, Blumen zu pflanzen und Kerzen aufzustellen. Im Sommer ragen die Zweige der beiden großen Bäume am Treppenaufgang zum Sonnenhügel ineinander. Es sieht aus, wie ein großes grünes Tor in eine andere Welt. Und von hier oben aus kann ich hinunter aufs Dorf schauen. Dorthin, wo mein Leben weitergeht. Es fällt mir schwer, mich nach einem Friedhofsbesuch einfach umzudrehen und zu gehen. Es ist so, wie zu jenen Zeiten, in denen ich an Mamas Bett saß und mich mehrmals zu ihr umgedreht habe, bevor ich das Zimmer verlassen habe. Und wahrscheinlich kann ich gar nicht anders, als auf dem Friedhof immer noch einmal zurückzublicken, bevor ich die Treppen hinuntergehe- in mein Leben.