Habe ich eigentlich schon gesagt, dass ich es mir bis zum 19. Oktober nie vorstellen konnte, einen Menschen zu pflegen? Machen wir einen Haken drunter. Denn ich kann. Irgendwie hat es sich so ergeben. Mama braucht Opiate und Mittel gegen Übelkeit. Rund um die Uhr. Und diese Mittel kann sie eben wegen ihrer Übelkeit nicht schlucken. Also müssen die Medikamente unter die Haut gespritzt werden. Schwester Birgit legt dafür kleine Zugänge in die Haut des Bauches oder die Oberschenkel. Hat meine Mutter Schmerzen oder wird ihr übel, muss ich eine Spritze mit dem entsprechenden Medikament aufziehen und das eben unter die Haut spritzen. Birgit fragt nicht, ob ich das kann. Sie zeigt mir wie das geht und ab dem Moment kann ich die Medikamente subkutan- so nennt man das im Fachchinesisch- spritzen. Und so sitze ich jeden Abend, bevor ich selbst ins Bett gehe, an meinem Esstisch oder auf einem Stuhl neben Mamas Bett und ziehe die Spritzen für die Nacht auf, damit es schnell geht, wenn sie mich weckt. Das klappt am Anfang noch durch einen Handyanruf, später lege ich Mama eine Gartenklingel neben das Bett, damit sie nur einen Knopf drücken muss. Irgendwann kann sie sich aber selbst nicht mehr melden. Lange Nächte, in denen Sabine und später auch meine Tochter Katja Nachtschichten einlegen, beginnen. Doch dazu später mehr.
Die ersten Tage bei mir kann Mama noch selbst zur Toilette gehen, sich waschen oder auch duschen. Doch Tag für Tag wird sie schwächer. Irgendwann ist sie so wackelig auf den Beinen, dass ich sie lieber ins Badezimmer begleite. Ich habe nur eine Badewanne, sie kann nicht sicher darin stehen um sich zu duschen. Also stelle ich einen Hocker in die Wanne und biete ihr meine Hilfe an. Ich helfe ihr beim Ausziehen und dieser dünne, ausgemergelte Körper erschreckt mich. Vorsichtig dusche ich meine Mutter (ich habe sie vorher noch nie nackt gesehen) ab und wasche ihre dünnen Haare, die nach der Chemo zum Glück wieder nachgewachsen sind. Ich helfe ihr beim Abtrocknen, hülle sie in den dicken Bademantel und bringe sie schnell zum Bett, wo ich in Ruhe ihre Füße abtrockne und die dicken Socken überstreife. Ich knie nieder vor meiner Mutter, die sich viele Jahre um mich gekümmert hat. Mir kommt es vor, als knie ich nicht nur vor ihr, um ihre Füße abzutrocknen, ich verneige mich vor ihr. Verneige mich vor ihrem Leben, ihrem Leid und vor dem, was sie für mich getan hat. Ein ganz besonderes Gefühl, das ich eigentlich gar nicht genau beschreiben kann, nimmt mich in diesem Moment ein.
Und dann ist da noch etwas: Während ihre Kräfte schwinden, habe ich das Gefühl, dass ich stark sein muss.