54 Jahre und 1 Abschiedskuss  

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Wie soll ich dieses Gefühl nur beschreiben? Mit 54 Jahren bin ich mir ja eigentlich ziemlich sicher, jede Seite meiner Mutter zu kennen. Doch diese letzten Tage, die wir nun hier in meiner auf den Kopf gestellten Wohnung gemeinsam verbringen, zeigen mir noch eine neue Seite von ihr. Irgendwie erlebe ich sie so ganz anders, dankbar, so weise und mild. So jedenfalls meine Versuche, diese Wahrnehmung in Worte zu fassen. Später wird mir klar: Es ist einfach nur Liebe. Und dieses große Vertrauen in mich und natürlich auch in meine Schwester, das sie uns entgegenbringt. Diese Erfahrung überwältigt mich. Als Tochter befinde ich mich plötzlich in einer völlig neuen Rolle. „Kann ich mich denn auf dich verlassen?“ fragt mich Mama an einem Abend, als wir an ihrem Bett sitzen, ohne genau zu sagen, was sie damit meint. Aber das muss auch nicht ausgesprochen werden. „Natürlich kannst du dich auf Beate verlassen“, sagt Sabine und nickt. Ja, ich will alles tun, was in ihrem Sinne und ihrer Situation für sie das Beste ist, auch wenn ich weiß, dass diese Verantwortung, die ich da auf mich genommen hatte, so schwer auf meinen Schultern lastet. Und zum Glück muss ich sie ja nicht alleine tragen. So versuchen Sabine, Katja und ich jeden Tag aufs Neue diese Aufgabe zu erfüllen. Als wir eines Abends Mamas Bett frisch beziehen und ich ihre Decke aufwirbele, um sie ein wenig aufzumuntern, bezeichnet sie mich humorvoll als Schwester „Rabiata“. Und als wir zwei Schwestern ihr sagen, dass sie uns jetzt nicht mehr loswird, sagt sie „Das habe ich mir immer gewünscht“. Bevor wir ihr eine gute Nacht wünschen, drückt sie mir noch schnell mit Ansage „einen feuchten Schmatz“ auf die Wange. Sie weiß, dass ich das noch nie mochte. Wir lachen. Innerlich möchte ich weinen. Es fühlt sich an, wie ein Abschiedskuss. Sabine hatte sie eines Abends so liebevoll mit ihrer so dünnen Hand hinterher gewunken. So, wie sie es früher immer nach einem Besuch gemacht hatte und wir wieder nach Hause gefahren sind. So schön dieses Bild auch ist, so weh tut es.  Und ja, dieser Abschied schmerzt. Tief in mir drin sitzt dieser Schmerz, der mir den Schlaf raubt und mich immer wieder in Tränen ausbrechen lässt. Einfach so.  Ganz unvermittelt fange ich an zu weinen. In der Küche beim Kaffee kochen oder wenn ich mich für einen Moment auf das Sofa lege, um mich auszuruhen. Selbst das Essen macht mich traurig. Sobald ich versuche, einen Bissen hinunter zu schlucken, stehen mir die Tränen in den Augen. In meinem Hals sitzt der Kloß der Traurigkeit. Da ist einfach im Moment kein Platz mehr für Essen. Der Schlafmangel und die seelische und körperliche Erschöpfung lassen diesen Kloß noch dicker werden. Vielleicht zwei Tage vor Mamas Tod liege ich morgens im Bett (nach höchstens drei Stunden Schlaf) und kann nicht aufstehen. Es geht nicht. Ich kann die Beine einfach nicht bewegen und werde geschüttelt von meiner Heulerei. Sabine macht sich Sorgen und bringt mir einen Kaffee ans Bett. Dann springt mein Kater Balu, den Mama auch so sehr geliebt hat, auf meine Bettdecke. Er drückt mir liebevoll sein Köpfchen ins Gesicht und leckt mir die vielen Tränen von der Wange. So etwas hat er noch nie getan. Er scheint mir sagen zu wollen, dass doch mein Leben weitergehen muss. Irgendwann stehe ich auf. Später werde ich mir noch Sorgen um meine Schwester machen müssen, die völlig erschöpft im Esszimmer auf dem Boden sitzt. Doch auch Sabine rappelt sich wieder auf. Schwester Birgit, die jeden Tag vorbeikommt, sieht uns unsere Erschöpfung an. Sie rät uns, doch wenigstens in der Nacht ins Bett zu gehen und in regelmäßigen Abständen nach unserer Mutter zu schauen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir nicht bei Mama wären, wenn sie ihren letzten Atemzug machen würde. Diesen Moment würde Mama sowieso bestimmen. „So, wie es passiert, ist es richtig“, sagt sie. Also stellen wir uns abwechselnd den Wecker und schauen in regelmäßigen Abständen nach unserer Mutter und Oma und danach, ob wir noch mal die Schmerzpumpe betätigen oder ihre Lippen befeuchten müssen. Im Treppenhaus lassen wir das Licht an. Und es fällt immer schwerer, die Tür zu Mamas Zimmer zu öffnen, weil wir ja nicht wissen, was uns letztendlich dahinter erwartet.