Eine Reise zu den Sternen beginnt

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Die Ärzte und Schwestern vom Palliativdienst können uns nicht sagen, wie lange Mama braucht, um sich von ihrem Leben zu verabschieden. Sie können nur dafür Sorge tragen, dass es Mama gut geht, dass sie weder unter Schmerzen noch unter Übelkeit oder Angst leidet. Es gibt sogar Momente, wo sie selbst sogar staunen, wie lange es Mama schafft, ohne Nahrung und Flüssigkeit auszukommen. Irgendwann fängt sie an, immer ihre Füße hin und herzubewegen. Sie selbst merkt das gar nicht, wundert sich nur über den Muskelkater in ihren Waden. Und sie will immer wieder aufstehen aus ihrem Bett, ist unruhig. „Ich glaube, ihre Mutter macht sich so langsam auf den Weg“, sagt irgendwann Schwester Birgit zu uns. Und auch die Hospizfachkraft rät uns, vorsichtshalber schon mal unsere Geschwister zu informieren, dass Mama bald sterben wird. Eine kleine Broschüre, in der der Sterbeprozess beschrieben wird, hilft uns das ein oder andere Mal, zu verstehen, was da gerade vor sich geht. Irgendwann schaut uns Mama nicht mehr an. Sie scheint nur noch an die Zimmerdecke zu starren, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz weit weg. „Es ist der Sternenblick“, sagt Maria, die Hospizfachkraft, die wir so oft in unserer Verzweiflung anrufen, wenn wir einfach nicht mehr weiterwissen. Sie kommt dann so schnell, wie es geht zu uns. Spricht aus, was wir fühlen und wofür wir im Moment keine Worte finden. Als ich sie wieder einmal weinend anrufe, sagt sie: „Ich verstehe, was du meinst. Da ist ein Schneeball ins Rollen gekommen, der immer größer wird und den du nicht aufhalten kannst“. Ja, genau so ist unsere Situation. Erschöpfung, tiefe Traurigkeit und Angst überwältigen uns immer wieder.  Und der Schneeball rollt trotzdem immer weiter. Wir müssen es akzeptieren, dass er immer weiter rollt.  Aufhalten können wir ihn nicht und auch nicht vor ihm weglaufen. Maria bestärkt uns in dem, was wir machen und nimmt uns unsere Unsicherheit, die uns immer wieder übermannt. Sie macht uns Mut, durchzuhalten und beantwortet uns die vielen Fragen, die uns im Kopf herumschwirren. Sie bringt ein paar Mundpflegestäbchen mit, weil in der Apotheke gerade keine zu bekommen sind und gibt uns den Tipp, Mamas Nachthemden doch einfach hinten aufzuschneiden, um sie ihr leichter an- und ausziehen zu können. Sabine meint, dass uns Mama- wenn sie könnte- dafür ordentlich in den Senkel stellen würde. Doch irgendwann greifen wir zur Schere. Es ist für uns und unsere Mutter doch so viel leichter, die Körperpflege zu bewältigen. Auch mit dem „Sternenblick“ können wir uns nun viel leichter abfinden. Irgendwie scheint es auch tröstlich, dass Mama zu den Sternen blickt. Und oft streckt sie die Arme aus. So, als wolle sie die Hände von jemanden greifen, der da oben in den Sternen auf sie wartet. Dass Sterbende bereits verstorbene Angehörige sehen, wisse man von Palliativstationen, erklärt uns Maria. Und auch das macht es für uns ein wenig leichter, unsere Mutter und Großmutter loszulassen. Vielleicht wird sie von unserem viel zu früh verstorbenen Vater, unserer Großmutter oder ihrem späteren Lebensgefährten (dessen Tod sie an ihrem Glauben hat zweifeln lassen) gerufen?

Aber der letzte Abschnitt auf Mamas Lebensweg scheint weit zu sein. Zehn Tage lang dauert ihre Reise zwischen Leben und Tod. Zehn Tage und Nächte, in denen wir immer hoffen, dass es bald vorbei ist. Dass Mama und auch wir diesen beschwerlichen Weg, der uns mit jedem Schritt steiler erscheint, endlich verlassen können. „Früher wollte Mama uns nicht gehen lassen, wenn wir bei ihr zu Besuch waren. Nun ist sie bei uns und will bleiben, will einfach noch nicht gehen. Ich kann nicht mehr“, sagt Sabine in einer Nacht völlig verzweifelt, als wir sie für ihre Nachtwache wecken. Wir haben den Eindruck, dass noch irgendetwas oder irgendwer fehlt, Mama einfach noch nicht gehen kann.