Und jeder Tag ist der 19. Oktober

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Es ist Samstag. Der Samstag vor dem ersten Advent. Als ich die Rollläden am Morgen hochziehe und auf die Lichter in den Fenstern der Nachbarn und die geschmückten Tannenbäume in unserem Dorf blicke, wird mir bewusst, dass der November fast vorbei ist und der festliche Dezember beginnt. Begreifen kann ich das aber nicht. Es fühlt sich auch gar nicht so an. Denn erst gestern war der Bestatter hier und hat Mama mitgenommen. Seit dem 19. Oktober war sie bei mir. Seitdem ist die Zeit stehen geblieben. Ich hätte nie gedacht, dass ich dieser Metapher einmal eine Bedeutung zumessen würde. Doch es fühlt sich genauso an. Die zurückliegenden 41 Tage haben alle nur ein Datum: 19. Oktober.  Der Herbst geht an mir unmerklich vorbei. Egal, ob es noch die letzten leuchtenden Tage sind oder sich die graue Novembertristesse vor der Türe breit macht. Es ist nicht wichtig. Es ist nicht wichtig, ob wir Montag haben oder Mittwoch, Oktober oder November. Das spielt alles keine Rolle.

Das Telefon klingelt. „Mama“ steht auf dem Display. Kurz vorher hatte ich noch mit ihr per WhatsApp geschrieben. Ich will sie nächste Woche besuchen und Hilfe organisieren, damit sie trotz ihrer Krankheit in ihren eigenen vier Wänden bleiben kann. Einen Termin mit dem Hospizverein in ihrer Stadt habe ich schon ausgemacht. Mama geht es nicht gut. Die Chemotherapie hat ihr viel Kraft genommen, nun will sie diese Medikamente nicht mehr in ihrem Körper haben. Eigentlich wollte sie das von Anfang an nicht. Sie hat sich trotzdem irgendwann darauf eingelassen. „Heilen können wir sie mit der Chemotherapie nicht, wohl aber die Hoffnung haben, den Krankheitsverlauf hinauszuzögern“, höre ich noch die Ärztin zu ihr sagen. Meine beiden Schwestern und ich sind bei dem Gespräch dabei und raten ihr, es doch vielleicht zu versuchen und in der Therapie eine Chance zu sehen. Ob dieser Rat gut war? Ich glaube, niemand kann diese Frage beantworten. Und selbst wenn…. Was würde diese Antwort jetzt bringen? Mama hat es versucht. Sie musste all diese fürchterlichen Nebenwirkungen ertragen, hat ihre Haare verloren und sich eine Perücke machen lassen. Als sie sich nach einer Behandlungsreihe dafür entscheidet, die Chemotherapie zu beenden, geht es auch wieder aufwärts. Sie kann wieder essen, nimmt sogar etwas zu. Irgendwann müssen Kontrolluntersuchungen gemacht werden. Erst sieht es ganz gut aus, dann wieder nicht. Mama hofft auf eine Misteltherapie und die Ärzte im Krankenhaus verschreiben sie ihr. Doch der Appetit der letzten Tage verlässt sie wieder. Sie kann wieder nichts essen. Es schmeckt einfach nichts mehr. Die Kräfte schwinden. Als sie mir am Telefon sagt „Ich kann nicht mehr“, kommt mir nur eine Antwort über die Lippen. „Mama, ich hole dich. Willst du zu mir kommen?“ Sie will. Als ich mit meiner Tochter Katja vor ihrer Haustüre stehe, um sie abzuholen, wartet sie schon mit gepacktem Koffer. Sie will nur noch raus aus ihrer Wohnung. So schnell wie möglich. Schaut nicht mehr zurück. Ob sie weiß, dass sie nie wieder zurückkommt?