Es ist der 28. November. Nach einer weiteren fast schlaflosen Nacht besucht uns wieder Schwester Birgit vom SAPV-Team. Mama mag die Schwester sehr, ihr hatte sie sich vor einigen Tagen noch anvertraut und sie gefragt, ob es denn richtig gewesen sei, die Chemotherapie abzubrechen. Sabine und ich hatten das Gespräch mitangehört, wir saßen zum gleichen Zeitpunkt mit der Gutachterin des Medizinischen Dienstes im Nebenzimmer und beantworteten sämtliche Fragen zum Antrag auf Pflegegeld. Ich weiß noch, dass ich das Gespräch unterbrechen musste und in die Küche gelaufen bin, um meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Wie so oft in diesen Tagen. Jetzt sitzt Schwester Birgit bei mir am Tisch und fragt mich, ob wir denn wissen, was wir machen müssen, wenn Mama verstorben ist. Sie erklärt mir, was zu tun ist, um eventuell Mund und Augen zu schließen. Wir können sie jederzeit anrufen und falls Mama in der Nacht sterben würde, würde es reichen, wenn der Arzt auch erst am nächsten Morgen kommt, um den Tod festzustellen. Bevor Birgit zum nächsten Patienten fährt, geht sie noch mal mit mir zu Mamas Bett. Wir unterhalten uns und ich denke, es ist gut, dass Mama die Stimme der Palliativschwester hört. An diesem Tag habe ich den Wunsch, mit meiner Tochter ein paar Blumen einzukaufen, um sie in Mamas Zimmer aufzustellen. Später bemühen wir uns um etwas Normalität (wenn man in dieser Situation von Normalität reden kann) an diesem Tag. Wir puzzeln an dem Esstisch weiter und schauen auf dem Laptop leise Serien an. Und zwischendurch haben wir einen Blick auf Mama, gehen immer wieder an ihr Bett, um ihr nah zu sein. Am frühen Abend sagen wir ihr, dass wir ein bisschen nach oben gehen, um fernzusehen. Es dauert nicht lange, da hat Sabine das Bedürfnis, nach ihr zu schauen. Sie kommt schnell zurück und ihr Blick sagt mehr als tausend Worte. Katja und ich folgen ihr in Mamas Zimmer. Während sie in den vergangenen Tagen laut und schwer geatmet hatte, kommt ihr jetzt nur noch ein kaum hörbarer und flacher Atemhauch über die Lippen. Wir setzen uns an ihr Bett und schweigen. Wie lange, weiß ich nicht mehr. Vielleicht ein paar Minuten oder eine halbe Stunde? Dann ist plötzlich Stille. Mama hat einfach aufgehört zu atmen. Wir sagen nichts, schauen uns an. Schließlich fließen die Tränen. Ich greife nach ihrer Hand. „Jetzt hast du es geschafft, Mama“, sage ich mit tränenerstickter Stimme. Auch Sabine und Katja gehen nacheinander an ihr Bett, um ihr ein paar Abschiedsworte zu sagen, noch einmal ihre Haut zu streicheln. Und dann überrollen uns unsere Gefühle. Wir weinen, schluchzen, nehmen uns in den Arm, um uns gegenseitig zu trösten. Irgendwann öffne ich das Fenster, damit Mamas Seele hinausfliegen kann. Was wirklich daran ist, weiß ich nicht. Ich habe auch eigentlich nie darüber nachgedacht. Ich mache es irgendwie automatisch und es fühlt sich richtig an in diesem Moment. Sabine stellt die Schmerzpumpe aus, als wir uns irgendwann gefasst haben. Wir rufen Christian an. Bevor er mit unserer Schwägerin Doro und den Kindern kommt, legen wir feuchte Wattepads auf Mamas Augenlider, damit sie geschlossen bleiben. Es sieht aus, als wollten wir ihre müden Augen kühlen. Bevor die Kinder den Raum betreten, nehmen wir die Wattepads aber wieder weg. Emi (12) und Leon (9) gehen mit Doro ans Sterbebett, streicheln über die Hände ihrer Oma sagen ihr ein letztes Mal „tschüss Oma“. Dann bleiben sie noch ein wenig bei uns sitzen, bevor sie mit Katja nach oben gehen. Doro kämmt Mama die Haare (Plötzlich sieht sie genau aus wie ihre Mutter, unsere Oma. Hatten die beiden immer so viel Ähnlichkeit?), küsst sie auf die Wange und sagt liebevoll „Schlaf gut, schlaf gut“. Und schließlich setzen wir uns alle vor ihr Bett. Wir schweigen, weinen und reden. Sabine und Katja bleiben abwechselnd bei den Kindern, die irgendwann oben auf dem Sofa einschlafen. Wir rufen unsere ältere Schwester an um sie zu informieren und ich melde mich irgendwann bei Schwester Birgit. Nachdem Christian, Doro und die Kinder nach Hause gefahren sind, bleiben wir zu dritt an Mamas Bett, so, wie wir es in den letzten zehn Tagen auch immer gemacht haben. Bis in die Nacht hinein bleiben wir bei Ihr sitzen. Doch irgendwann übermannt uns unsere Müdigkeit und die Erschöpfung der vergangenen Tage. Keine von uns will aber alleine sein, wir legen uns zu dritt in ein Bett. Neben unserer Trauer macht sich auch ein Gefühl der Erleichterung breit. Erleichterung darüber, dass Mamas Leiden nun ein Ende hat. Und Erleichterung darüber, diesen Moment, von dem wir alle nicht wussten, wie er werden wird, so voller Frieden erlebt zu haben. Und wir spüren Dankbarkeit, dass wir diesen Moment überhaut miterleben durften, dass Mama uns hat teilhaben lassen.
Lange danach mache ich mir Gedanken darüber, wie es sein konnte, dass Mama plötzlich so viel Ähnlichkeit (sie sah fast genauso aus) mit ihrer eigenen Mutter hatte. Und es macht sich ein ganz tröstlicher Gedanke in meinem Kopf breit: Zum Zeitpunkt ihres Todes wurde sie- dort, wo auch immer sie jetzt ist- von ihrer Mutter empfangen und in die Arme geschlossen….