Von Abschied und Trauer, vom Verzweifeln und Hoffen, von Vertrauen und Liebe

Kennst du das? Da gibt es diese Momente im Leben, die dein Leben auf den Kopf stellen. Erlebnisse, die dich sprachlos machen, für die dir die Worte fehlen. Hast du schon mal erlebt, dass deine Gefühle dein ganzes Sein bestimmen? Jede Minute, jede Stunde und jeden Tag? Wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann ist das Fühlen übermächtig. Dann schaltet das Herz den Kopf aus. So jedenfalls habe ich die letzten gemeinsamen Tage mit meiner Mutter erlebt und das Abschiednehmen, das mich sprachlos gemacht hat. Doch irgendwann habe ich meine Worte wieder gefunden und im Schreiben über den Tod meiner Mutter die Möglichkeit gesehen, mich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und es zu verarbeiten. Gleichzeitig möchte ich dich, liebe Leserin, lieber Leser teilhaben lassen an den Erfahrungen meiner Familie, an meiner Trauer und meinen Hoffnungen. Ich möchte all das, was uns bewegt hat, was uns weinen und verzweifeln ließ, was uns so verletzlich und hilflos gemacht hat, in Worte fassen. Und ich möchte das teilen, was uns Kraft gegeben hat und wo wir Hilfe und liebevolle Unterstützung gefunden haben. Ich möchte von Menschen erzählen, die mich in dieser Zeit auch ohne Worte verstanden haben. Ich möchte über tiefe Liebe schreiben, von grenzenlosem Vertrauen und kostbaren Erinnerungen. Und ich möchte Mut machen, die schwerste Herausforderung, die das Leben bereithält, anzunehmen. In der Gewissheit, dass sie eine Bereicherung sein kann. Und in der Gewissheit, dass man sie nicht alleine bewältigen muss und jemand da ist, der einem zur Seite steht.

Beate Christ

Dieser Blog ist als Abschlussarbeit meiner Ausbildung zur Kinder-, Jugend- und Familientrauerbegleiterin (BVT) entstanden.

(Bis auf die Vornamen meiner Familienmitglieder habe ich aus Datenschutzgründen alle anderen Namen geändert. Fotos: Heiko Christ, Sally Zbikowski, Beate Christ)

 

Blumen zum 78. Geburtstag

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Es ist Ende April. Genauer gesagt: der 28. Doch diesmal ist alles anders als an allen Tagen dieses Datums in den Jahren zuvor. Ich stehe hier an Mamas Grab. Anrufen und ihr zum Geburtstag gratulieren kann ich nicht mehr, erst recht kann ich ihr keinen Besuch mehr abstatten, sie in den Arm nehmen oder ein Geschenk überreichen. Mir bleibt es nur noch, vor dem Grabstein zu stehen, ein paar Blumen in die Vase zu stellen und mich an jene Geburtstage zu erinnern, die wir gemeinsam feiern konnten. Zuletzt war das vor zwei Jahren. Alle ihre vier Kinder waren da bei ihr. Einer jener seltenen Momente, die sie immer so sehr genossen hat. Wir hatten richtig viel Spaß, haben herumgealbert und Mama hat natürlich für uns alle gekocht. Eigentlich hatte sie den Plan, irgendwann ihre eigene Wohnung in der Stadt aufzugeben und in unsere Nähe zu ziehen, damit sie uns öfter sehen kann. Vielleicht in ein Haus für seniorengerechtes Wohnen. Ein paar Monate später kam die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Umzugspläne mussten erst einmal auf Eis gelegt werden. Es folgten Krankenhausaufenthalte, eine Operation und eine Chemotherapie. Das volle Programm eben. Und zwischendurch: bangen und hoffen. Aber auch der Realität ins Auge blicken. Mama wollte nicht kampflos aufgeben und hat dem Krebs ein ganzes Jahr lang die Stirn gezeigt, bis zum 19. Oktober 2019. Da hat sie mich weinend angerufen und gesagt: „Ich kann nicht mehr“.

Und jeder Tag ist der 19. Oktober

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Es ist Samstag. Der Samstag vor dem ersten Advent. Als ich die Rollläden am Morgen hochziehe und auf die Lichter in den Fenstern der Nachbarn und die geschmückten Tannenbäume in unserem Dorf blicke, wird mir bewusst, dass der November fast vorbei ist und der festliche Dezember beginnt. Begreifen kann ich das aber nicht. Es fühlt sich auch gar nicht so an. Denn erst gestern war der Bestatter hier und hat Mama mitgenommen. Seit dem 19. Oktober war sie bei mir. Seitdem ist die Zeit stehen geblieben. Ich hätte nie gedacht, dass ich dieser Metapher einmal eine Bedeutung zumessen würde. Doch es fühlt sich genauso an. Die zurückliegenden 41 Tage haben alle nur ein Datum: 19. Oktober.  Der Herbst geht an mir unmerklich vorbei. Egal, ob es noch die letzten leuchtenden Tage sind oder sich die graue Novembertristesse vor der Türe breit macht. Es ist nicht wichtig. Es ist nicht wichtig, ob wir Montag haben oder Mittwoch, Oktober oder November. Das spielt alles keine Rolle.

Das Telefon klingelt. „Mama“ steht auf dem Display. Kurz vorher hatte ich noch mit ihr per WhatsApp geschrieben. Ich will sie nächste Woche besuchen und Hilfe organisieren, damit sie trotz ihrer Krankheit in ihren eigenen vier Wänden bleiben kann. Einen Termin mit dem Hospizverein in ihrer Stadt habe ich schon ausgemacht. Mama geht es nicht gut. Die Chemotherapie hat ihr viel Kraft genommen, nun will sie diese Medikamente nicht mehr in ihrem Körper haben. Eigentlich wollte sie das von Anfang an nicht. Sie hat sich trotzdem irgendwann darauf eingelassen. „Heilen können wir sie mit der Chemotherapie nicht, wohl aber die Hoffnung haben, den Krankheitsverlauf hinauszuzögern“, höre ich noch die Ärztin zu ihr sagen. Meine beiden Schwestern und ich sind bei dem Gespräch dabei und raten ihr, es doch vielleicht zu versuchen und in der Therapie eine Chance zu sehen. Ob dieser Rat gut war? Ich glaube, niemand kann diese Frage beantworten. Und selbst wenn…. Was würde diese Antwort jetzt bringen? Mama hat es versucht. Sie musste all diese fürchterlichen Nebenwirkungen ertragen, hat ihre Haare verloren und sich eine Perücke machen lassen. Als sie sich nach einer Behandlungsreihe dafür entscheidet, die Chemotherapie zu beenden, geht es auch wieder aufwärts. Sie kann wieder essen, nimmt sogar etwas zu. Irgendwann müssen Kontrolluntersuchungen gemacht werden. Erst sieht es ganz gut aus, dann wieder nicht. Mama hofft auf eine Misteltherapie und die Ärzte im Krankenhaus verschreiben sie ihr. Doch der Appetit der letzten Tage verlässt sie wieder. Sie kann wieder nichts essen. Es schmeckt einfach nichts mehr. Die Kräfte schwinden. Als sie mir am Telefon sagt „Ich kann nicht mehr“, kommt mir nur eine Antwort über die Lippen. „Mama, ich hole dich. Willst du zu mir kommen?“ Sie will. Als ich mit meiner Tochter Katja vor ihrer Haustüre stehe, um sie abzuholen, wartet sie schon mit gepacktem Koffer. Sie will nur noch raus aus ihrer Wohnung. So schnell wie möglich. Schaut nicht mehr zurück. Ob sie weiß, dass sie nie wieder zurückkommt?

Auf Platz 17 in der Warteschleife

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Auf meinem Sofa im Wohnzimmer habe ich Mama erst einmal ein Bett gemacht. Hier hat sie auch immer geschlafen, wenn sie für ein paar Tage zu Besuch bei mir war. Aber nun ist das etwas anderes. Auf Dauer braucht sie ein Bett und ein eigenes Zimmer. Ich rufe beim Ambulanten Hospiz an. Ich brauche jemand, der uns helfen kann. Jemand, der sagen kann, wo wir Hilfe finden. Mama braucht doch auch hier einen Arzt. Mittlerweile nimmt sie starke Schmerzmittel. Ich vereinbare einen Beratungstermin beim Pflegestützpunkt und Maria, die Hospizfachkraft des Ambulanten Hospizes (www.wegweiser-hospiz-palliativmedizin.de ) kommt vorbei, um mit uns zu reden. Ob Mama denn mal für ein paar Tage auf eine Palliativstation möchte, um sich ein bisschen aufpäppeln zu lassen, fragt sie. Für Mama ist dies keine Option. In ein Krankenhaus möchte sie nie wieder, da ist sie 100prozentig sicher. Dann muss eben die palliative Versorgung zu uns nach Hause kommen. Maria stellt für uns einen Kontakt zu einem SAPV-Dienst (SAPV: Spezialisierte ambulante palliative Versorgung) her. Und sie bietet uns an, dass eine ehrenamtliche Hospizbegleiterin regelmäßig zu uns kommen kann. „Das muss nicht sein“, meint Mama. Sie will von ihren Kindern umsorgt werden, mehr nicht.  Außerdem befürchtet sie, dass sie die fremde Frau, die sie besuchen würde, unterhalten müsste. Und das ist ihr zu anstrengend. Dass diese „fremde Frau“ aber irgendwann in den dunkelsten Stunden zu einem Lichtblick für uns alle würde, ahnen wir noch nicht. Noch habe ich ein paar Tage Urlaub. Aber was ist danach? Allein zu bleiben, auch nur für Stunden, lehnt meine Mutter ab. Ich frage mich, warum. Denn eigentlich kann sie sich noch gut ohne jegliche Hilfe im Haus bewegen. Am 19. Oktober war sie zuhause sogar noch allein einkaufen. Dass rasend schnell ihre Kräfte sie verlassen würden, hätte an diesem Tag noch niemand gedacht, wahrscheinlich ahnte nur sie selbst, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Ich kann eine Auszeit von der Arbeit für 10 Tage bei der Krankenkasse meiner Mutter beantragen ( www.wege-zur-pflege.de/themen/auszeit-im-akutfall ), das wird mir vom Pflegestützpunkt geraten. Das ist gut. Also rufe ich bei der AOK an. „Sie befinden sich auf Platz 17 in der Warteschleife“, sagt eine Stimme und anschließend dudelt nervige Musik durch den Hörer. Wir wollen gerade frühstücken. Da kann ich ja getrost das Telefon aus der Hand legen und mir erst einmal ein Brot schmieren. Ich stelle fest: Platz 17 ist ganz schön weit entfernt von Platz 1…, also esse ich auch noch das geschmierte Brot, trinke gemütlich Kaffee und warte, warte, warte. Wenigstens das Warten hat sich gelohnt. Ich kann den Antrag stellen und auch mein Arbeitgeber ist damit einverstanden. Puhhh… Erst einmal eine Sorge los. Dieser Warteschleife sollen übrigens in den nächsten Tagen noch viele andere folgen. Auf Anraten des Pflegestützpunktes beantrage ich auch direkt eine Pflegestufe. Viel Papierkram muss in den nächsten Wochen erledigt werden.

Der informierte SAPV-Dienst ( www.wegweiser-hospiz-palliativmedizin.de ) übernimmt die Versorgung meiner Mutter ganz unkompliziert. Die Ärztin stellt sie erst einmal medikamentös so ein, dass sie sich nicht mehr übergeben muss und auch keine Schmerzen mehr ertragen muss. Sie verschreibt ihr ein Pflegebett und einen Toilettenstuhl (Kommentar von Mama: „Was soll ich denn damit?“). Um die Hilfsmittel bei den Sanitätshäusern zu ordern, vergehen ungezählte Minuten in Warteschleifen, wie sollte es auch anders sein? Die Palliativschwester Birgit, die mir diese lästigen Anrufe abnimmt, sorgt sich derweil um die Akkuleistung ihres Handys. In der Wartezeit versorgt sie in aller Ruhe meine Mutter mit den notwendigen Medikamenten. Birgit wird im Verlauf der nächsten Wochen noch häufiger in der Warteschleife von Krankenkasse und Sanitätshäusern hängen und das ein oder andere Mal wird sie ihren Gesprächspartnern am anderen Ende der Leitung so richtig ihre Meinung sagen. Denn so einfach ist es nicht, das zu bekommen, was ein schwerkranker Mensch in der letzten Phase seines Lebens benötigt. Noch heute höre sie mehrmals von einer „hoch palliativen Situation“ sprechen.  Und es hört sich so an, als wolle man am anderen Ende der Leitung gar nicht verstehen, was dies bedeutet. Da muss man, beziehungsweise Schwester Birgit, auch schon mal laut werden. Aber das kann weder ich noch meine Schwester Sabine, die irgendwann auch bei uns einzieht, um mit mir Mama zu versorgen. Unsere Kraft und Energie werden nämlich an ganz anderer Stelle gebraucht.  Gegen starre Vorschriften, Paragrafen und Formalien anzukämpfen, ist eigentlich das Letzte, was wir jetzt können.

 

Dieses Video auf der der Homepage des Deutschen Hospiz- und Palliativ Verbandes (DHPV) fasst zusammen, welche Unterstützung am Lebensende möglich ist:

4 Spritzen für die Nacht

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Habe ich eigentlich schon gesagt, dass ich es mir bis zum 19. Oktober nie vorstellen konnte, einen Menschen zu pflegen? Machen wir einen Haken drunter. Denn ich kann. Irgendwie hat es sich so ergeben. Mama braucht Opiate und Mittel gegen Übelkeit. Rund um die Uhr. Und diese Mittel kann sie eben wegen ihrer Übelkeit nicht schlucken. Also müssen die Medikamente unter die Haut gespritzt werden. Schwester Birgit legt dafür kleine Zugänge in die Haut des Bauches oder die Oberschenkel. Hat meine Mutter Schmerzen oder wird ihr übel, muss ich eine Spritze mit dem entsprechenden Medikament aufziehen und das eben unter die Haut spritzen. Birgit fragt nicht, ob ich das kann. Sie zeigt mir wie das geht und ab dem Moment kann ich die Medikamente subkutan- so nennt man das im Fachchinesisch- spritzen. Und so sitze ich jeden Abend, bevor ich selbst ins Bett gehe, an meinem Esstisch oder auf einem Stuhl neben Mamas Bett und ziehe die Spritzen für die Nacht auf, damit es schnell geht, wenn sie mich weckt. Das klappt am Anfang noch durch einen Handyanruf, später lege ich Mama eine Gartenklingel neben das Bett, damit sie nur einen Knopf drücken muss. Irgendwann kann sie sich aber selbst nicht mehr melden. Lange Nächte, in denen Sabine und später auch meine Tochter Katja Nachtschichten einlegen, beginnen. Doch dazu später mehr.

Die ersten Tage bei mir kann Mama noch selbst zur Toilette gehen, sich waschen oder auch duschen. Doch Tag für Tag wird sie schwächer. Irgendwann ist sie so wackelig auf den Beinen, dass ich sie lieber ins Badezimmer begleite. Ich habe nur eine Badewanne, sie kann nicht sicher darin stehen um sich zu duschen. Also stelle ich einen Hocker in die Wanne und biete ihr meine Hilfe an. Ich helfe ihr beim Ausziehen und dieser dünne, ausgemergelte Körper erschreckt mich. Vorsichtig dusche ich meine Mutter (ich habe sie vorher noch nie nackt gesehen) ab und wasche ihre dünnen Haare, die nach der Chemo zum Glück wieder nachgewachsen sind. Ich helfe ihr beim Abtrocknen, hülle sie in den dicken Bademantel und bringe sie schnell zum Bett, wo ich in Ruhe ihre Füße abtrockne und die dicken Socken überstreife. Ich knie nieder vor meiner Mutter, die sich viele Jahre um mich gekümmert hat. Mir kommt es vor, als knie ich nicht nur vor ihr, um ihre Füße abzutrocknen, ich verneige mich vor ihr. Verneige mich vor ihrem Leben, ihrem Leid und vor dem, was sie für mich getan hat. Ein ganz besonderes Gefühl, das ich eigentlich gar nicht genau beschreiben kann, nimmt mich in diesem Moment ein.

Und dann ist da noch etwas: Während ihre Kräfte schwinden, habe ich das Gefühl, dass ich stark sein muss.

3 in einem Team

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Jeden Tag geht es ein Stückchen mehr bergab mit Mama. Und auch meine Kräfte scheinen zu schwinden. Seit dem 19. Oktober habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen, Mama so schwach zu sehen, tut weh. Ich schleppe Pepsinwein an, eine Freundin von Mama empfiehlt eine Brühe aus Kalbsknochen und ich mache den Heringssalat, den sie immer so gern gegessen hat (Darauf kann ich mir echt etwas einbilden, denn Mamas Ideal einer perfekten Hausfrau und Köchin zu entsprechen, das ist gar nicht so leicht). Mit der Zeit schmeckt ihr der morgendliche Kaffee nicht mehr, ich koche Tee und tagsüber versuchen wir es mit Fruchtschorlen und Malzbier. Das Essen klappt einfach nicht mehr, meine Mutter will es nicht herunterbekommen. Als sie die Ärztin fragt, ob eine künstliche Ernährung sinnvoll sein könnte, muss sie erfahren, dass dies in ihrer Situation keine Option mehr ist. „Ihre Krankheit ist so weit fortgeschritten, ihr Körper könnte die Nahrung nicht mehr verwerten“, sagt die Ärztin. Die Gefahr, dass die Übelkeit zurückkommt und der schwache Körper zu sehr belastet wird, sei zu hoch. Und dann ist da ja noch der Tumor, dieser fiese Schmarotzer, der sämtliche Nährstoffe rauben und verwerten würde, um weiter zu wachsen.

Mama schaut mich an. „Jetzt weißt Du, wen du dir hierhin geholt hast“, sagt sie bitter. „Ich habe meine Mama zu mir geholt“, lautet meine Antwort. Das erste und einzige Mal in 41 Tagen liegen wir uns schluchzend und weinend in den Armen. „Kannst du das denn?“ fragt sie mich irgendwann. „Ja natürlich. Der Mensch kann so viel, wenn er will, Mama“, höre ich mich durch den Tränenschleier sagen. Das weiß sie selbst am besten. Schließlich hat sie vor vielen Jahren Papa gepflegt und ihren späteren Lebensgefährten, der auch schon lange tot ist, umsorgt. Letztendlich hat sie vier Kinder großgezogen. Mit allen Schwierigkeiten und natürlich auch den schönen Seiten.  Nun muss und will ich für sie da sein.

Und ein Mensch kann noch mehr, wenn da zwei sind, die einem helfen. Als ich das Gefühl habe, dass ich alles nicht mehr allein schaffen kann, rufe ich meine Schwester an. „Kannst du heute Nacht bei uns schlafen?“ frage ich sie. Sabine kommt und wird für die nächste Zeit bei mir einziehen. Von nun an wachen wir gemeinsam und immer mal wieder abwechselnd an Mamas Bett. Wir passen auf, dass sie nicht allein aufsteht, reichen ihr das Dunkelbier und drücken den Knopf der Schmerzpumpe (die sie mittlerweile bekommen hat), wenn die Schmerzen stärker werden. Irgendwann steht meine Tochter Katja vor der Türe. „Ihr geht heute Nacht mal schlafen und ich passe auf“, sagt sie bestimmt. Von diesem Moment an ist sie mit im Team. Damit nicht eine allein sich diese unendlich langen Stunden in der Nacht um die Ohren schlagen muss, halten zwei von uns Wache, während die Dritte für ein paar Stunden schlafen kann. Die beiden, die am Esstisch am Durchgang zu Mamas Zimmer sitzen, halten sich mit dem Ausmalen von Mandalas, dem Puzzeln, Lesen oder Stricken wach. Und irgendwie scheint in der Nacht die Zeit viel langsamer vorüber zu gehen als tagsüber. Und wäre da nicht immer wieder dieser unbeschreibliche Abschiedsschmerz, die Trauer und die Hilflosigkeit. Einen Sterbenden hat noch niemand von uns begleitet. Jedenfalls nicht so. Nicht mit dieser Verantwortung.

Eine Reise zu den Sternen beginnt

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Die Ärzte und Schwestern vom Palliativdienst können uns nicht sagen, wie lange Mama braucht, um sich von ihrem Leben zu verabschieden. Sie können nur dafür Sorge tragen, dass es Mama gut geht, dass sie weder unter Schmerzen noch unter Übelkeit oder Angst leidet. Es gibt sogar Momente, wo sie selbst sogar staunen, wie lange es Mama schafft, ohne Nahrung und Flüssigkeit auszukommen. Irgendwann fängt sie an, immer ihre Füße hin und herzubewegen. Sie selbst merkt das gar nicht, wundert sich nur über den Muskelkater in ihren Waden. Und sie will immer wieder aufstehen aus ihrem Bett, ist unruhig. „Ich glaube, ihre Mutter macht sich so langsam auf den Weg“, sagt irgendwann Schwester Birgit zu uns. Und auch die Hospizfachkraft rät uns, vorsichtshalber schon mal unsere Geschwister zu informieren, dass Mama bald sterben wird. Eine kleine Broschüre, in der der Sterbeprozess beschrieben wird, hilft uns das ein oder andere Mal, zu verstehen, was da gerade vor sich geht. Irgendwann schaut uns Mama nicht mehr an. Sie scheint nur noch an die Zimmerdecke zu starren, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz weit weg. „Es ist der Sternenblick“, sagt Maria, die Hospizfachkraft, die wir so oft in unserer Verzweiflung anrufen, wenn wir einfach nicht mehr weiterwissen. Sie kommt dann so schnell, wie es geht zu uns. Spricht aus, was wir fühlen und wofür wir im Moment keine Worte finden. Als ich sie wieder einmal weinend anrufe, sagt sie: „Ich verstehe, was du meinst. Da ist ein Schneeball ins Rollen gekommen, der immer größer wird und den du nicht aufhalten kannst“. Ja, genau so ist unsere Situation. Erschöpfung, tiefe Traurigkeit und Angst überwältigen uns immer wieder.  Und der Schneeball rollt trotzdem immer weiter. Wir müssen es akzeptieren, dass er immer weiter rollt.  Aufhalten können wir ihn nicht und auch nicht vor ihm weglaufen. Maria bestärkt uns in dem, was wir machen und nimmt uns unsere Unsicherheit, die uns immer wieder übermannt. Sie macht uns Mut, durchzuhalten und beantwortet uns die vielen Fragen, die uns im Kopf herumschwirren. Sie bringt ein paar Mundpflegestäbchen mit, weil in der Apotheke gerade keine zu bekommen sind und gibt uns den Tipp, Mamas Nachthemden doch einfach hinten aufzuschneiden, um sie ihr leichter an- und ausziehen zu können. Sabine meint, dass uns Mama- wenn sie könnte- dafür ordentlich in den Senkel stellen würde. Doch irgendwann greifen wir zur Schere. Es ist für uns und unsere Mutter doch so viel leichter, die Körperpflege zu bewältigen. Auch mit dem „Sternenblick“ können wir uns nun viel leichter abfinden. Irgendwie scheint es auch tröstlich, dass Mama zu den Sternen blickt. Und oft streckt sie die Arme aus. So, als wolle sie die Hände von jemanden greifen, der da oben in den Sternen auf sie wartet. Dass Sterbende bereits verstorbene Angehörige sehen, wisse man von Palliativstationen, erklärt uns Maria. Und auch das macht es für uns ein wenig leichter, unsere Mutter und Großmutter loszulassen. Vielleicht wird sie von unserem viel zu früh verstorbenen Vater, unserer Großmutter oder ihrem späteren Lebensgefährten (dessen Tod sie an ihrem Glauben hat zweifeln lassen) gerufen?

Aber der letzte Abschnitt auf Mamas Lebensweg scheint weit zu sein. Zehn Tage lang dauert ihre Reise zwischen Leben und Tod. Zehn Tage und Nächte, in denen wir immer hoffen, dass es bald vorbei ist. Dass Mama und auch wir diesen beschwerlichen Weg, der uns mit jedem Schritt steiler erscheint, endlich verlassen können. „Früher wollte Mama uns nicht gehen lassen, wenn wir bei ihr zu Besuch waren. Nun ist sie bei uns und will bleiben, will einfach noch nicht gehen. Ich kann nicht mehr“, sagt Sabine in einer Nacht völlig verzweifelt, als wir sie für ihre Nachtwache wecken. Wir haben den Eindruck, dass noch irgendetwas oder irgendwer fehlt, Mama einfach noch nicht gehen kann.

3 Meter Wäscheleine und eine Rolle Panzerband

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Da ist diese eine Nacht, in der Mama noch ansprechbar ist und sich auch selbst noch ein wenig mitteilen kann. Sabine schläft ein bisschen oben in meinem improvisierten Wohnzimmer (ist eigentlich mein Büro) auf der Couch. Es ist Mitternacht und ich sitze noch an Mamas Bett. Es fällt mir einfach schwer, mich umzudrehen, das Zimmer und sie zu verlassen. Ich weiß ja nicht, ob sie, wenn ich beim nächsten Mal das Zimmer betrete, noch lebt. Und so sitze ich neben ihrem Bett auf dem Stuhl. Noch ein paar Tage vorher hat sie zu uns gesagt, dass wir doch mal schlafen sollen und sie nicht will, dass wir immer für sie aufstehen müssen. Sie entschuldigt sich sogar immer dafür, wenn sie uns ruft, damit wir ihr Schmerzmittel geben. Als Nachteulen bezeichnet sie uns. Auch entgeht ihr nicht, dass wir Tag und Nacht im Jogginganzug vor ihr stehen. „Zieht ihr euch gar nicht mehr um?“ fragt sie irgendwann empört. Solch ein Lotterleben hätte es bei ihr bestimmt nicht gegeben.  Na ja… also sitze ich da in meinem ausgeleierten Jogginganzug an ihrem Bett und spüre, dass sie so langsam in den Schlaf findet. Dieser stille Moment wird jäh unterbrochen, als ein Gitter des Pflegebettes plötzlich laut krachend zu Boden fällt. Der Knall schallt durch das ganze Haus, Mama schreckt kurz auf und ich bin dem Herzinfarkt nahe. Ich versuche ruhig zu bleiben und erkläre ihr, was passiert ist. Gleichzeitig geht mir aber auch durch den Kopf, wie unsagbar schlimm das in ihrer hilflosen Situation sein muss. Sabine eilt auch sofort herbei und wir überlegen, wie wir verhindern können, dass auch die andere Seite des Gitters zu Boden fällt. Mit so einem Pflegebett kennen wir uns doch gar nicht aus und wir haben keine Ahnung, warum das ganze passiert ist. Ich hole erst einmal einen Stapel Bücher, den ich unter die Seite des Bettgitters lege, die sich noch an der richtigen Stelle befindet. Dann schneide ich im Waschkeller ein paar Meter Wäscheleine ab und besorge eine Rolle Panzerband. Wir ziehen das heruntergefallene Gitter wieder hoch, kleben und binden es am Kopf- und Fußteil des Bettes fest. Was Besseres fällt uns in der verzweifelten Situation auch nicht ein. Am nächsten Tag wird dann schnell klar, woran es gelegen hat. Ein Feststellhaken muss sich wohl beim Hin- und Herschieben des Bettes gelöst haben. Wir bringen ihn wieder an seine Position und können Wäscheleine und Panzerband entfernen. Meine nächtliche Wut über das Bett und das Sanitätshaus, dass ich am liebsten noch in der Nacht verklagt hätte, legt sich auch schon wieder…

1 Glas Wein und eine liebevolle Hilfe

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Ach…. die Nächte, die sind eigentlich das Schlimmste. Irgendwann ist Katja bei uns. Ganz liebevoll kümmert sie sich um ihre Oma, der sie wohl noch nie so nah war, wie in diesen Tagen und Nächten. Meistens flüstern wir, weil wir Angst haben, Mama zu erschrecken. Von dem vielen Flüstern werden wir ganz heiser und manchmal fragen wir uns, ob die ganze Flüsterei überhaupt notwendig ist. Und da kommt „diese fremde Frau“ (wie Mama sie bezeichnet hat), die ehrenamtliche Hospizbegleiterin ins Spiel. Sie schenkt uns Zeit. Zeit, in der wir uns mal erholen können. Ich will dann meistens nur schlafen, Sabine an die Luft und Katja nutzt die Zeit, um für uns etwas einzukaufen. Die fremde Frau heißt Paula. Sie bringt Ruhe in unser aufgewühltes Leben, erträgt unsere Tränen, setzt sich zu Mama ans Bett und passt auf sie auf. Sie fragt auch immer, wie es uns geht und hört sich unseren Kummer an. Es ist so wichtig, dass wir uns mitteilen können und in ihr eine Zuhörerin finden. Aber sie tut noch mehr. Sie hilft uns, das, was wir da alle erleben, als etwas Natürliches anzusehen. Wir müssen doch gar nicht dauernd leise sein, meint sie. Schließlich sei Mama doch zu uns gekommen, um bei uns zu sein. Sie will uns doch hören, sehen und um sich wissen. Wie recht sie hat. „Nehmen sie sich doch heute Abend ein Gläschen Wein und setzen sie sich zu ihrer Mutter und unterhalten sich. So, wie sie es sonst vielleicht auch gemacht hätten“, sagt sie. So könnten wir Mama doch auch noch ein bisschen teilhaben lassen an unserem Leben. Es tut gut, dass Paula da ist. Und obwohl wir sie ja erst vor ein paar Tagen kennengelernt haben, scheint sie so vertraut. Ihre Anwesenheit tut uns so gut. Sie gibt uns ein gutes Gefühl, wenn sie sich mit einem Buch neben das Bett von Mama setzt und wir uns ein wenig zurückziehen können. Wäre etwas, würde sie uns rufen. Das wissen wir.

54 Jahre und 1 Abschiedskuss  

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Wie soll ich dieses Gefühl nur beschreiben? Mit 54 Jahren bin ich mir ja eigentlich ziemlich sicher, jede Seite meiner Mutter zu kennen. Doch diese letzten Tage, die wir nun hier in meiner auf den Kopf gestellten Wohnung gemeinsam verbringen, zeigen mir noch eine neue Seite von ihr. Irgendwie erlebe ich sie so ganz anders, dankbar, so weise und mild. So jedenfalls meine Versuche, diese Wahrnehmung in Worte zu fassen. Später wird mir klar: Es ist einfach nur Liebe. Und dieses große Vertrauen in mich und natürlich auch in meine Schwester, das sie uns entgegenbringt. Diese Erfahrung überwältigt mich. Als Tochter befinde ich mich plötzlich in einer völlig neuen Rolle. „Kann ich mich denn auf dich verlassen?“ fragt mich Mama an einem Abend, als wir an ihrem Bett sitzen, ohne genau zu sagen, was sie damit meint. Aber das muss auch nicht ausgesprochen werden. „Natürlich kannst du dich auf Beate verlassen“, sagt Sabine und nickt. Ja, ich will alles tun, was in ihrem Sinne und ihrer Situation für sie das Beste ist, auch wenn ich weiß, dass diese Verantwortung, die ich da auf mich genommen hatte, so schwer auf meinen Schultern lastet. Und zum Glück muss ich sie ja nicht alleine tragen. So versuchen Sabine, Katja und ich jeden Tag aufs Neue diese Aufgabe zu erfüllen. Als wir eines Abends Mamas Bett frisch beziehen und ich ihre Decke aufwirbele, um sie ein wenig aufzumuntern, bezeichnet sie mich humorvoll als Schwester „Rabiata“. Und als wir zwei Schwestern ihr sagen, dass sie uns jetzt nicht mehr loswird, sagt sie „Das habe ich mir immer gewünscht“. Bevor wir ihr eine gute Nacht wünschen, drückt sie mir noch schnell mit Ansage „einen feuchten Schmatz“ auf die Wange. Sie weiß, dass ich das noch nie mochte. Wir lachen. Innerlich möchte ich weinen. Es fühlt sich an, wie ein Abschiedskuss. Sabine hatte sie eines Abends so liebevoll mit ihrer so dünnen Hand hinterher gewunken. So, wie sie es früher immer nach einem Besuch gemacht hatte und wir wieder nach Hause gefahren sind. So schön dieses Bild auch ist, so weh tut es.  Und ja, dieser Abschied schmerzt. Tief in mir drin sitzt dieser Schmerz, der mir den Schlaf raubt und mich immer wieder in Tränen ausbrechen lässt. Einfach so.  Ganz unvermittelt fange ich an zu weinen. In der Küche beim Kaffee kochen oder wenn ich mich für einen Moment auf das Sofa lege, um mich auszuruhen. Selbst das Essen macht mich traurig. Sobald ich versuche, einen Bissen hinunter zu schlucken, stehen mir die Tränen in den Augen. In meinem Hals sitzt der Kloß der Traurigkeit. Da ist einfach im Moment kein Platz mehr für Essen. Der Schlafmangel und die seelische und körperliche Erschöpfung lassen diesen Kloß noch dicker werden. Vielleicht zwei Tage vor Mamas Tod liege ich morgens im Bett (nach höchstens drei Stunden Schlaf) und kann nicht aufstehen. Es geht nicht. Ich kann die Beine einfach nicht bewegen und werde geschüttelt von meiner Heulerei. Sabine macht sich Sorgen und bringt mir einen Kaffee ans Bett. Dann springt mein Kater Balu, den Mama auch so sehr geliebt hat, auf meine Bettdecke. Er drückt mir liebevoll sein Köpfchen ins Gesicht und leckt mir die vielen Tränen von der Wange. So etwas hat er noch nie getan. Er scheint mir sagen zu wollen, dass doch mein Leben weitergehen muss. Irgendwann stehe ich auf. Später werde ich mir noch Sorgen um meine Schwester machen müssen, die völlig erschöpft im Esszimmer auf dem Boden sitzt. Doch auch Sabine rappelt sich wieder auf. Schwester Birgit, die jeden Tag vorbeikommt, sieht uns unsere Erschöpfung an. Sie rät uns, doch wenigstens in der Nacht ins Bett zu gehen und in regelmäßigen Abständen nach unserer Mutter zu schauen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir nicht bei Mama wären, wenn sie ihren letzten Atemzug machen würde. Diesen Moment würde Mama sowieso bestimmen. „So, wie es passiert, ist es richtig“, sagt sie. Also stellen wir uns abwechselnd den Wecker und schauen in regelmäßigen Abständen nach unserer Mutter und Oma und danach, ob wir noch mal die Schmerzpumpe betätigen oder ihre Lippen befeuchten müssen. Im Treppenhaus lassen wir das Licht an. Und es fällt immer schwerer, die Tür zu Mamas Zimmer zu öffnen, weil wir ja nicht wissen, was uns letztendlich dahinter erwartet.

4 Kinder am Sterbebett und Psalm 23

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Ich habe ja schon erwähnt, dass wir das Gefühl haben, dass vielleicht irgendwas oder irgendwer noch fehlen könnte, damit Mama loslassen kann. Auch Schwester Birgit fragt uns eines Morgens, ob denn unsere ältere Schwester sich noch verabschieden wollte. Während unser Bruder mehrmals zu Besuch war, als Mama noch ansprechbar war, will unsere ältere Schwester „sie lieber so in Erinnerung behalten, wie sie war“. Für uns eine verzwickte Situation. Denn irgendwie haben wir das Gefühl, dass sich Mama auch von ihr verabschieden möchte. Schließlich können wir sie überzeugen, zu uns zu kommen. Und auch unser Bruder kommt vorbei. So können alle vier Kinder an Mamas Bett stehen. Ich versuche, mich mit allen zu unterhalten, damit sie alle Stimmen hören kann. Wir sagen ihr, dass wir alle zusammen sind und alle gut zurechtkommen und sie sich keine Sorgen machen muss. Und wir reden ein bisschen über das Wetter und die Autobahnfahrt, die hinter meinem Bruder und meiner Schwester liegen. Es fühlt sich richtig an. Obwohl Mama seit dem Tod ihres Lebensgefährten doch sehr mit ihrem Glauben und der Kirche gehadert hat, rufen wir unseren Pfarrer an. Gläubig war sie eigentlich immer und wir wollen sie nicht ohne Gottes Segen gehen lassen. Wir hoffen einfach, dass sie damit einverstanden ist. Und so kommt der Pfarrer, der auch meine Kinder konfirmiert hat, stellt sich ihr in seiner ruhigen und freundlichen Art vor und spricht Psalm 23. Gemeinsam beten wir das Vater unser und irgendwie haben wir das Gefühl, dass Mama entspannter wirkt und ihr Atem ruhiger wird. Wir plaudern noch ein wenig mit dem Pfarrer. Schließlich fragt er uns, welche Musik unsere Mutter gerne hört. Mir fällt darauf keine Antwort ein. Mein Kopf ist einfach nur leer. Sabine kann sich später daran erinnern, dass sie gerne Cliff Richards „The Millennium Prayer“ gehört hat. Wir spielen es ihr vor. Und währenddessen kullern mir wieder die Tränen über die Wangen.

Sanftes Geleit auf 8 Pfoten

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Immer hat Mama sich gefreut, wenn sie nicht nur mich, sondern auch meine beiden Katzen Kiki und Balu besuchen konnte. Für die beiden Samtpfoten gab es dann immer sehr viele Leckerchen. Kiki bedankte sich dafür mit Zuneigung. Stundenlang saß sie auf dem Schoß meiner Mutter und schlief auch gerne mit in ihrem Gästebett auf dem Sofa. Balu, der eher etwas zurückhaltend ist, unterhielt sie dafür mit seinem Spiel, dem Mama nur allzu gerne zuschaut. Und so ist es auch jetzt wieder, bei Mamas letztem Besuch. Kiki nutzt jede Gelegenheit, um auf ihrem Schoß zu schlafen. Doch irgendwann hat Mama keine Kraft mehr, die Katze wird ihr zu schwer auf den immer dünner werdenden Beinen. Kiki bekommt einen Stuhl direkt neben Mamas Fernsehsessel gestellt. Die alte Katzendame akzeptiert das neue Lager und weicht Mama nicht mehr von der Seite. Doch irgendwann, da will Kiki nicht mehr in Mamas Zimmer. Sie legt sich wie ein Wächter in den Flur vor die Türe. Alle Bemühungen, sie in ein warmes Zimmer oder gar auf das weiche Sofa zu locken, scheitern. Es scheint, als spüre das Tier, das hier ein Leben zu Ende geht. Balu lassen wir nur noch mit ins Zimmer, wenn wir dabei sind. Zu groß ist die Sorge, dass er- so verspielt, wie er ist- unvermittelt auf Mamas Bett springen könnte. An einem Tag, als Mama schon ganz weit weg zu sein scheint, hole ich den flauschigen Kater an ihr Bett. Vielleicht möchte sie ihn noch einmal streicheln, sein weiches Fell spüren. Ich hebe ihn hoch und Sabine nimmt Mamas Hand und lässt sie über das Fell gleiten. Wir haben das Gefühl, dass Mama ihn spürt und diese Berührung genießt. Balu lässt sich dies alles gefallen. Er bleibt ganz ruhig. Als ich ihn absetzen will, läuft er nicht weg. Wie ein Besucher bleibt er eine ganze Weile auf dem Stuhl vor dem Bett sitzen. „Mama, Balu ist bei dir“, sage ich ihr. Irgendwann geht er auf leisen Katzenpfötchen aus dem Zimmer. An dem Abend, an dem Mama ihren letzten Atemzug getan hat, kommt plötzlich auf ganz wackeligen Beinen die alte Kiki an ihr Totenbett. Sie setzt sich in unsere Mitte, den Kopf in Richtung Mama gewandt und maunzt. Gemeinsam mit uns sitzt sie anschließend still vor Mama und nimmt Abschied. Irgendwann geht sie wieder auf das Bänkchen im Flur. Ein paar Tage nach Mamas Tod müssen wir die alte Katze einschläfern lassen. Auch ihre Kraft ist zu Ende gegangen, die Bemühungen des Tierarztes, sie aufzupäppeln, scheitern. „Sie ist jetzt wieder bei Mama und sitzt auf ihrem Schoß“ tröste ich mich. Als wir später Mamas Grab einfassen lassen, lassen wir vom Steinmetz auch ein paar Katzenpfötchen in den Sandstein gravieren. Es sieht so aus, als sei gerade eine Katze am Grab zu Besuch gewesen.  Wir denken, Mama hätte dies gefallen.

10 Anrufe, 1 WhatsApp-Nachricht und viele Beileidskarten

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Mama hat ein Smartphone. Seitdem sie es hat, nutzt sie nur allzu gerne die Möglichkeit, mit uns und ihren Enkelkindern in Kontakt zu stehen. Und natürlich auch mit ihren Freundinnen, mit denen sie sich austauscht. In den ersten Tagen bei mir nutzt sie das Handy, um mit ihren Freundinnen zu chatten oder zu telefonieren. Doch irgendwann will sie das nicht mehr. „Was soll ich denn noch sagen?“ fragt sie mich. Ich weiß, was sie meint. Ihre Freundinnen wollen wissen, wie es Mama geht. Und sie kann nicht mehr antworten, dass es ihr besser geht. Die gut gemeinten Genesungswünsche und andere Tipps, die ihr helfen sollen, kann Mama nicht mehr ertragen. Immer häufiger bittet sie mich, wenn das Telefon klingelt, zu sagen, dass sie nicht telefonieren kann. Tatsächlich schläft sie auch die meiste Zeit- ich muss noch nicht einmal am Hörer lügen. „Können wir uns denn wenigstens ein bisschen unterhalten?“ fragt einmal eine Freundin von Mama. Sie vermisst sie und ich habe das Gefühl, dass sie Mama nah sein kann, wenn sie mit mir spricht. Wir unterhalten uns. Leicht fällt mir das nicht, fühlt sich mein Kopf im Moment sowieso so leer an. Aber ich erfahre, wie sehr Mama von ihren Freundinnen geschätzt wurde. Das wiederum tut gut. Aber es ist anstrengend. Auch die Bitte nach einem Besuch müssen wir hier und da ablehnen. Weil es Mama nicht mehr kann und wir auch nicht. Zu verletzlich sind wir hier in unserem kleinen Kosmos geworden…  Ein paar Wochen nach Mamas Tod möchte ich schauen, ob auf ihrem Handy noch Bilder sind, die ich speichern sollte. Als ich das Gerät einschalte, sehe ich die Nachricht einer Freundin, die sich nach Mama erkundigt und ihr eine schöne Adventszeit wünscht. Ich schreibe ihr von meinem Handy aus und teile ihr mit, dass Mama gestorben ist. Immer mal wieder meldet sich die ein oder andere Freundin von Mama bei mir. In den Nachrichten teilen sie mir ihre Gedanken und Erinnerungen mit. Schön, dass sie immer noch an Mama, an mich und meine Geschwister denken und nach uns fragen. Schweren Herzens lösche ich irgendwann Mamas Nummer von meinem Handy und unseren Chatverlauf. Ich kann es mir nicht mehr anschauen, es tut zu weh. Die letzte Nachricht von Mama kam am 19. Oktober 2019.

Was ich mir ab und an mal anschaue, sind die vielen Beileidskarten, die uns nach Mamas Tod geschickt wurden. Es tut gut, die unterschiedlichen tröstenden und liebevollen Worte der Absender zu lesen. Ich habe die Karten in einer alten Blechdose von Mama aufbewahrt. Keine Ahnung, was früher darin war. Vielleicht Gebäck oder Tee. Ich habe das Stammbuch unserer Familie, das ja nun geschlossen ist, dazugelegt.

2 Paar Winterschuhe und 25 Umzugskartons

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Mit einem kleinen Reisekoffer und einer Tasche mit Medikamenten ist Mama bei mir angekommen. Das reicht mal gerade für ein paar Tage. Also mache ich irgendwann mit Christian auf den Weg in Mamas Wohnung, um noch weitere Dinge, die sie gerne haben möchte, zu holen. Ich frage sie, was ihr wichtig ist. „Die Winterschuhe“ sagt Mama. Sie möchte unbedingt ihre Winterschuhe haben. Die seien im Keller in einem Karton. Ich wundere mich. „Wieso ausgerechnet die Winterschuhe?“ geht es mir durch den Kopf. Mama geht es so schlecht, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diese Schuhe noch einmal tragen wird. Aber die Winterschuhe sind ihr wichtig. Zum Glück finde ich sie. Und ich packe einfach noch Kleidung, Bilder und andere Dinge ein, von denen ich denke, dass sie sie gebrauchen könnte. Es ist komisch, allein in Mamas Wohnung zu sein und zu wissen, dass wir sie irgendwann ganz ausräumen müssen. Wir nehmen zwei kleine Schränke, ihren Fernsehsessel, ihren Fernseher und einige Bilder mit. Mit diesen Sachen wollen wir ihr es bei mir gemütlich machen. Als wir nach Mamas Tod die Wohnung auflösen müssen, fühle ich mich, als räume ich Mamas Leben in Umzugskartons. Und nicht nur Mamas Leben. Auch unseres. Da sind die Fotoalben mit unseren Kinderfotos und sogar die alten Frühstücksbrettchen, die wir als Kinder benutzt haben, gibt es noch. Alles wird ausgeräumt, verpackt und vorerst auf meinem Speicher untergestellt. Die Winterschuhe hat sie dann doch noch getragen: auf ihrer letzten Reise. Als ich den Bestatter gebeten hatte, sie ihr anzuziehen, hatte er gesagt: „Deine Mama wusste, wie kalt es hier im Westerwald sein kann“. Ja, Mama war es bei mir oft kalt. Deshalb hatte sie auch ihre dicken Kuschelsocken, die ich ihr einmal geschenkt hatte, mitgebracht. Die liegen jetzt in meinem Wäscheschrank. Anziehen kann ich sie nicht. Das ist komisch. Andere Dinge von ihr kann ich ohne Probleme nutzen. Eine kuschelige Jacke beispielsweise, Geschirr oder den kleinen Reisekoffer, den sie immer gepackt hatte, wenn sie mich besucht hatte. Ihr Kulturbeutel steht heute noch – zwei Jahre nach ihrem Tod- unberührt auf meinem Speicher. Ich kann die Dinge darin nicht auspacken, geschweige denn ihr Duschgel, dass sie zuletzt bei mir benutzt hatte, riechen. Dabei gefiel mir der Duft so gut. Ich bringe es aber auch nicht übers Herz, alles einfach wegzuwerfen.

1 letzter Atemzug und unendlich viele Tränen

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Es ist der 28. November. Nach einer weiteren fast schlaflosen Nacht besucht uns wieder Schwester Birgit vom SAPV-Team. Mama mag die Schwester sehr, ihr hatte sie sich vor einigen Tagen noch anvertraut und sie gefragt, ob es denn richtig gewesen sei, die Chemotherapie abzubrechen. Sabine und ich hatten das Gespräch mitangehört, wir saßen zum gleichen Zeitpunkt mit der Gutachterin des Medizinischen Dienstes im Nebenzimmer und beantworteten sämtliche Fragen zum Antrag auf Pflegegeld. Ich weiß noch, dass ich das Gespräch unterbrechen musste und in die Küche gelaufen bin, um meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Wie so oft in diesen Tagen. Jetzt sitzt Schwester Birgit bei mir am Tisch und fragt mich, ob wir denn wissen, was wir machen müssen, wenn Mama verstorben ist. Sie erklärt mir, was zu tun ist, um eventuell Mund und Augen zu schließen. Wir können sie jederzeit anrufen und falls Mama in der Nacht sterben würde, würde es reichen, wenn der Arzt auch erst am nächsten Morgen kommt, um den Tod festzustellen. Bevor Birgit zum nächsten Patienten fährt, geht sie noch mal mit mir zu Mamas Bett. Wir unterhalten uns und ich denke, es ist gut, dass Mama die Stimme der Palliativschwester hört. An diesem Tag habe ich den Wunsch, mit meiner Tochter ein paar Blumen einzukaufen, um sie in Mamas Zimmer aufzustellen. Später bemühen wir uns um etwas Normalität (wenn man in dieser Situation von Normalität reden kann) an diesem Tag. Wir puzzeln an dem Esstisch weiter und schauen auf dem Laptop leise Serien an. Und zwischendurch haben wir einen Blick auf Mama, gehen immer wieder an ihr Bett, um ihr nah zu sein. Am frühen Abend sagen wir ihr, dass wir ein bisschen nach oben gehen, um fernzusehen. Es dauert nicht lange, da hat Sabine das Bedürfnis, nach ihr zu schauen. Sie kommt schnell zurück und ihr Blick sagt mehr als tausend Worte. Katja und ich folgen ihr in Mamas Zimmer. Während sie in den vergangenen Tagen laut und schwer geatmet hatte, kommt ihr jetzt nur noch ein kaum hörbarer und flacher Atemhauch über die Lippen. Wir setzen uns an ihr Bett und schweigen. Wie lange, weiß ich nicht mehr. Vielleicht ein paar Minuten oder eine halbe Stunde? Dann ist plötzlich Stille. Mama hat einfach aufgehört zu atmen. Wir sagen nichts, schauen uns an. Schließlich fließen die Tränen. Ich greife nach ihrer Hand. „Jetzt hast du es geschafft, Mama“, sage ich mit tränenerstickter Stimme. Auch Sabine und Katja gehen nacheinander an ihr Bett, um ihr ein paar Abschiedsworte zu sagen, noch einmal ihre Haut zu streicheln. Und dann überrollen uns unsere Gefühle. Wir weinen, schluchzen, nehmen uns in den Arm, um uns gegenseitig zu trösten. Irgendwann öffne ich das Fenster, damit Mamas Seele hinausfliegen kann. Was wirklich daran ist, weiß ich nicht. Ich habe auch eigentlich nie darüber nachgedacht. Ich mache es irgendwie automatisch und es fühlt sich richtig an in diesem Moment.  Sabine stellt die Schmerzpumpe aus, als wir uns irgendwann gefasst haben. Wir rufen Christian an. Bevor er mit unserer Schwägerin Doro und den Kindern kommt, legen wir feuchte Wattepads auf Mamas Augenlider, damit sie geschlossen bleiben. Es sieht aus, als wollten wir ihre müden Augen kühlen. Bevor die Kinder den Raum betreten, nehmen wir die Wattepads aber wieder weg. Emi (12) und Leon (9) gehen mit Doro ans Sterbebett, streicheln über die Hände ihrer Oma sagen ihr ein letztes Mal „tschüss Oma“. Dann bleiben sie noch ein wenig bei uns sitzen, bevor sie mit Katja nach oben gehen. Doro kämmt Mama die Haare (Plötzlich sieht sie genau aus wie ihre Mutter, unsere Oma. Hatten die beiden immer so viel Ähnlichkeit?), küsst sie auf die Wange und sagt liebevoll „Schlaf gut, schlaf gut“. Und schließlich setzen wir uns alle vor ihr Bett. Wir schweigen, weinen und reden.  Sabine und Katja bleiben abwechselnd bei den Kindern, die irgendwann oben auf dem Sofa einschlafen. Wir rufen unsere ältere Schwester an um sie zu informieren und ich melde mich irgendwann bei Schwester Birgit. Nachdem Christian, Doro und die Kinder nach Hause gefahren sind, bleiben wir zu dritt an Mamas Bett, so, wie wir es in den letzten zehn Tagen auch immer gemacht haben. Bis in die Nacht hinein bleiben wir bei Ihr sitzen. Doch irgendwann übermannt uns unsere Müdigkeit und die Erschöpfung der vergangenen Tage. Keine von uns will aber alleine sein, wir legen uns zu dritt in ein Bett. Neben unserer Trauer macht sich auch ein Gefühl der Erleichterung breit. Erleichterung darüber, dass Mamas Leiden nun ein Ende hat. Und Erleichterung darüber, diesen Moment, von dem wir alle nicht wussten, wie er werden wird, so voller Frieden erlebt zu haben. Und wir spüren Dankbarkeit, dass wir diesen Moment überhaut miterleben durften, dass Mama uns hat teilhaben lassen.

Lange danach mache ich mir Gedanken darüber, wie es sein konnte, dass Mama plötzlich so viel Ähnlichkeit (sie sah fast genauso aus) mit ihrer eigenen Mutter hatte. Und es macht sich ein ganz tröstlicher Gedanke in meinem Kopf breit: Zum Zeitpunkt ihres Todes wurde sie- dort, wo auch immer sie jetzt ist- von ihrer Mutter empfangen und in die Arme geschlossen….

100 Euro für die Beerdigung und ein großes schwarzes Auto

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Als Sabine mit beiden Kindern oben in meinem improvisierten Wohnzimmer sitzt, stellt Leon fest: „Jetzt habt ihr ja keine Eltern mehr.“ Eine schlimme Vorstellung für ein Kind. Und sogleich macht er sich Gedanken um die Beerdigung. Die würde doch bestimmt viel Geld kosten, meint er. 100 Euro vielleicht? Sabine sagt ihm, dass sie nicht genau weiß, was eine Beerdigung kostet. Jedenfalls viel mehr als 100 Euro. „Ich kann von meinem Kommuniongeld etwas dazugeben“, bietet er an.  Wahrscheinlich hat er mitbekommen, dass wir Geschwister uns in den letzten Tagen auch genau diese Frage gestellt haben. Bislang hat noch niemand von uns eine Beerdigung organisiert. Da sind so viele Fragen.  Sabine ist gerührt und drückt ihn an sich. Ein paar Tage vor Mamas Tod hatten die Kinder noch Sprachnachrichten gemacht, die Doro Mama vorgespielt hatte. Zuletzt hatten die beiden Mama bei mir besucht, als sie noch aufstehen und sich mit allen unterhalten konnte. Jetzt haben die zwei Abschied genommen von ihrer Oma. Eine letzte Nacht bleibt sie noch bei uns. Als ich morgens aufstehe, gehe ich leise in ihr Zimmer. Ihre Fingerspitzen sind bläulich verfärbt, ansonsten sieht sie noch genauso aus, wie vor ein paar Stunden. Doro kommt vorbei, bringt uns frische Brötchen und Orangensaft zum Frühstück. Das tut uns gut. Denn regelmäßig oder überhaupt etwas zu essen, das ist uns in den letzten Tagen schwergefallen. Mit viel Kaffee hatten wir versucht, uns immer wachzuhalten. Während der Arzt den Totenschein ausstellt, versorgt Schwester Birgit meine Mutter ein letztes Mal. Sie entfernt den Katheter und die Schmerzpumpe. Maria kommt noch einmal vorbei. Sie schenkt Mama ein kleines Kreuz aus Olivenholz, das wir ihr in die Hände legen.  Irgendwann hält dann das große schwarze Auto vor der Türe. Bei dem Anblick breche ich in Tränen aus. Dieser Abschied ist so endgültig. Ich werde Mama nie wieder sehen. Es tut so weh. Mit dem Bestatter vereinbaren wir ein Gespräch für den nächsten Tag. Jetzt, in diesem Moment, einen klaren Gedanken zu fassen, das ist unmöglich.

30 Stufen zwischen Himmel und Erde

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Eigentlich hatte sich Mama gewünscht, in einer Urnenwand ihre letzte Ruhe zu finden. Sie wollte nicht unter die Erde. Warum, das weiß ich gar nicht. Nie haben wir beide darüber gesprochen. Meiner älteren Schwester hatte sie es irgendwann einmal gesagt. Doch diesen Wunsch werden wir ihr nicht erfüllen können, denn auf unserem Friedhof besteht diese Möglichkeit der Bestattung gar nicht. Und als uns der Bestatter erklärt, dass nach Ablauf der Ruhezeit auch die Urnen aus dem Kolumbarium in der Erde auf dem Friedhof für immer beigesetzt werden müssen, entscheiden wir uns für ein Urnengrab. Die Urnengräber befinden sich auf dem Sonnenhügel. Diese Bezeichnung gefällt uns gut und versöhnt uns mit der Tatsache, dass die Urnenwand nicht infrage kommt. Auf einen anderen Friedhof in einem weiter entfernten Ort möchten wir nicht ausweichen, Mamas letzte Ruhestätte wollen wir schließlich auf kurzem Wege erreichen. Es ist ein eisig kalter und sonniger Dezembernachmittag, als wir uns in der Friedhofshalle zusammenfinden. Der Blick auf die Urne, um die ein hübscher Blumenkranz gelegt ist, treibt mir die Tränen in die Augen. Und auch das Lied von Cliff Richard, „The Millennium Prayer“, das wir spielen lassen. Ob dies nicht am Ende zu temperamentvoll für eine Beerdigung ist, hatten wir noch ein paar Tage vorher den Bestatter gefragt. „Wenn dieses Lied Eure Mutter gerne gehört hat, ist es genau richtig, ganz egal, was vielleicht die anderen Leute denken“, lautete seine Antwort. Wie recht er hat. Ich bin übrigens froh, dass Mama sich für eine Einäscherung entschieden hat. Ich glaube, es wäre mir unendlich schwergefallen, zu sehen, wie sie in einem Sarg ins Grab hinuntergelassen würde. Die Urne ermöglicht mir etwas Abstand, wenn man in diesem emotionalen Moment überhaupt Abstand haben kann. Nach der Zeremonie gehen wir alle mit unserer kleinen Gesellschaft in die Gaststätte im Dorf, wo Kaffee, Kuchen und Schnittchen auf uns warten. Wie gut, dass wir uns dafür entschieden haben. Es tut gut, etwas zu essen, miteinander zu reden und nicht nach Hause zu müssen. Zuhause wartet ein leeres Krankenzimmer auf mich, erst nach und nach werden Pflegebett, Toilettenstuhl und Wannenlift bei mir abgeholt. Na ja, und wie könnte es anders sein, auch noch jede Menge Papierkram wartet auf mich, viele Dinge mit Krankenkasse und Versicherungen müssen erledigt werden.

Wie oft ich die 30 Stufen hinauf zum Sonnenhügel später noch gehen werde, ahne ich am Tag der Beerdigung noch nicht. Doch es tut mir gut, nach dem Grab zu sehen, mich später um das kleine Beet zu kümmern, Blumen zu pflanzen und Kerzen aufzustellen. Im Sommer ragen die Zweige der beiden großen Bäume am Treppenaufgang zum Sonnenhügel ineinander. Es sieht aus, wie ein großes grünes Tor in eine andere Welt. Und von hier oben aus kann ich hinunter aufs Dorf schauen. Dorthin, wo mein Leben weitergeht. Es fällt mir schwer, mich nach einem Friedhofsbesuch einfach umzudrehen und zu gehen. Es ist so, wie zu jenen Zeiten, in denen ich an Mamas Bett saß und mich mehrmals zu ihr umgedreht habe, bevor ich das Zimmer verlassen habe. Und wahrscheinlich kann ich gar nicht anders, als auf dem Friedhof immer noch einmal zurückzublicken, bevor ich die Treppen hinuntergehe- in mein Leben.

70 Kerzen und ein liebevolles Gedenken

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Einmal im Jahr laden der Hospizverein und das Ambulante Hospiz die Angehörigen der Verstorbenen ein, die durch den Hospizdienst begleitet wurden. Ein paar Monate nach Mamas Tod fühlt sich die Einladung zu der Gedenkfeier gut an. Ich fühle mich geborgen in der Gemeinschaft. Mit vielen anderen leuchtet auch Mamas Kerze, die zu ihrem Gedenken angezündet wird und einmal mehr finden die Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen des Hospizdienstes die richtigen Worte und spenden Trost. Ich fühle mich in diesem Moment umarmt von der Musik und den berührenden Worten, die gesprochen werden.

Unter den liebevoll vorgetragenen Texten spricht mit einer ganz besonders an:

 

 

24 Monate später der erste Reif

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Es ist der 10. November. Die Zeit ist nicht stehen geblieben und doch holt sie mich gerade jetzt wieder ein. Der erste Frost hat auf die Wiesen weiß funkelnden Reif gelegt und die Sonne scheint. Genauso, wie vor zwei Jahren. So fühlt es sich gerade an. Ich weiß noch genau, wie ich zu Mama gesagt habe, dass es gefroren hat. Es war kurz vor dem Martinstag. So wie jetzt. Am Martinsabend habe ich Mama noch einen Stuhl ans Fenster gestellt, damit sie die Kinder mit ihren Laternen sehen kann, wenn sie durchs Dorf ziehen. Und einen kleinen Weckmann habe ich ihr mitgebracht. Von dem konnte sie nur ein winziges Stückchen essen. Jetzt ist dieser Moment wieder da, ganz nah. Und ich spüre, wie ich traurig werde. In zwei Tagen soll der Martinszug durchs Dorf gehen und ich will wieder den bunten Papierstern ins Fenster hängen, der dort wie jedes Jahr auch bis nach Weihnachten leuchten soll. Als Mama bei mir war, leuchtete dieser Stern Tag und Nacht. Mama wollte es nie ganz dunkel im Zimmer haben. Vor einem Jahr fragte mich Sabine noch, ob es mir nichts ausmacht, diesen Stern aufzuhängen. „Nein“ hatte ich damals gesagt. Genauso wenig hatte es mir damals ausgemacht, mein Sofa wieder in die Ecke des Zimmers zu stellen, in dem bis zuletzt auch Mamas Bett gestanden hatte. Ich gebe zu, am Anfang hatte ich schon Sorge, ob ich mich wie vorher in diesem Raum wohlfühlen konnte. In der Ecke, in der Mama ihren letzten Atemzug getan hat. Es hat mir nichts ausgemacht, mein Wohnzimmer wieder dort einzuräumen und mir es genau dort wieder gemütlich zu machen. Die Sorge, der Tod könnte vielleicht noch mystisch irgendwo zwischen den vier Wänden gegenwärtig sein, war völlig grundlos. Ich gebe zu, es hat schon gedauert, bis der Geruch von Mamas Krankheit, gemischt von dem der Duftkerzen, diesen Raum wieder verlassen hat. Aber die Normalität hat mir gutgetan. Ich hatte wieder meine Wohnung zurück, die 41 Tage lang Krankenzimmer, Herberge, Abschiedsraum und Ort unendlicher Traurigkeit war. Ja, und ich hatte wieder meine Privatsphäre zurück, die ab dem 19. Oktober völlig verschwunden war. Ich konnte wieder langsam zu mir finden, wieder mein Leben weiterleben. Manchmal, an Tagen wie heute, da holen mich die Erlebnisse ein. Alles ist wieder da. Die Worte, das Schweigen, die Tränen, die Verzweiflung. Aber ich spüre auch die dankbare Erinnerung an das große Vertrauen, das Mama mir geschenkt hat, an jede liebevolle Unterstützung und die Gewissheit, dass mich meine Familie hält.